Ich bin so glücklich und ein bisschen aufgeregt! Heute ist der Tag gekommen. Heute beginnt ein wunderbarer Kunstsommer! Heute ist der erste Tag der documenta fifteen.
Es ist ein heißer Tag! In vielerlei Hinsicht: Es sind über 30 Grad im Schatten, die Sonne knallt und trotz der Kasseler Berge whet nicht mal ein leichtes Windchen – ganz untypisch für Kassel. Aber alles, was in den nächsten 100 Tagen passieren wird, ist untypisch für Kassel. Es wird ein fantastischer Tag werden. Ich habe viel vor.
Früh am Morgen stehen Rädli und ich schon auf deer Matte. Wir demonstrieren gegen die Entfernung des Fahrradstreifens auf dem Steinweg. Der Fahrradstreifen ist keine gute Lösung – kein Thema. Er führt auf dem Bürgersteig direkt am Rande des Fridericianums. In einer Zeit, in der die Welt zu Gast in Kassel sein wird sind Fahrräder auf dem Bürgersteig eine schlechte Idee. Aber ihn komplett zu entfernen ist einfach nur lächerlich. Die Straße war gesperrt wegen der Ankunft des Bundespräsidenten, also hatten wir die Straße für uns. War auch irgendwie lustig – Leute am Straßenrand dachten, dass wir eine Performance wären :). Die Performance begann aber bei der Ankunft von Frank-Walter Steinmeier. Mit einem lauten Fahrradklingeln haben wir ihn begrüßt – weil wir wissen, dass er ein leidenschaftlicher Fahrradfahrer ist – ich schätze er hat sich sehr gefreut.
Ich latsche danach zum Mittelpunkt der documenta fifteen – das ruruHaus (ruru von ruangrupa – der Name des Künstler*innen-Kollektivs, die die documenta fifteen kuratiert). Das Welcome Center im Erdgeschoss ist ein wunderbarer Ort zum Ankommen, Verweilen, Austauschen, Bücher kaufen, sich informieren, Leute kennenlernen, Lernen – eine echte nongkrong area (indonesisch für “gemeinsam abhängen”). Ich kaufe mir die Dauerkarte und das Begleitbuch und suche mir ein ruhiges schattiges Plätzchen zum Ausruhen – ich bin von den vielen Eindrücken meines Vormittags etwas überwältigt. Im Laufe des Tages habe ich viele Menschen mit einer ähnlichen Karte um den Hals gesehen. Ich erschließe mir, dass gelbe Karten die Künstler*innen-Ausweise sind und die grünen Karten die Mitarbeiter*innen-Ausweise. Ich habe mich gefragt, ob die Dauerkarte dieselbe Farbkombination, wie die Künstler*innen-Ausweise hat, weil eine Person, die 100 Tage auf der documenta fifteen rumhängt, als Teil der Künstler*innen-Kollektive gesehen wird?
Das wäre eine schöne Geste.
Das nicht so ruhige aber schattige Plätzchen finde ich neben der documenta-Halle. Ich versuche in meinem Begleitbuch zu lesen, aber es wuselt so viel um mich rum. Einige Fahrradfahrer*innen von der Demo kreisen noch aus dem Friedrichsplatz und dem Steinweg. Die Polizei wird aggressiv und albern. Sie verbietet ihnen noch weiter zu fahren “weil sie es so sagt”. Leute sind gestresst, weil sie nicht in die Museen dürfen, solange die VIPs inkl. unseres Bundespräsidenten sich da noch aufhalten. Ich erfülle meine Pflichten als Kasselerin und verweise sie auf andere nahe gelegene Kunstwerke. Ich frage mich auch, wieso Menschen sich eine Tageskarte für den Eröffnungstag kauft, mit dem Wunsch die Innenkunstwerke zu sehen? Aber hey, es ist documenta, also chill mal!
Genug ausgeruht – es gibt viel zu tun! Vor mir steht ein Meer voller Plakate und ein großes Banner auf dem groß “PEOPLE’S JUSTICE” geschrieben steht. Es ist ein riesiges Wimmelbild, auf dem ich kämpferische Menschen erkenne und Karikaturen von vermeintlich bösen Menschen. Die Sonne knallt auf diesen Platz so sehr, dass ich entscheide ein Foto davon zu machen und mir das Bild in Ruhe an einem anderen Tag anzuschauen.
Um das Banner sind hunderte Plakate aufgestellt. Ich erfahre, dass es Protestplakate sind. Diese Documenta scheint eine aktivistische Documenta zu sein – I like!
Im Begleitbuch lese ich, dass Taring Padi ein aktivistisches Künstler*innen-Kollektiv aus Indonesien ist, welches ihre Arbeit der letzten 20 Jahre des Kampfes für Menschenrechte, Klimaschutz und vieler weiterer gesellschaftlich relevanter Themen gewidmet hat. Ihre Hauptausstellung befindet sich im Hallenbad Ost, ein kurz vor der Documenta eröffneter Ausstellungsort auf der anderen Seite der Fulda. Da will ich heute auch noch hin.
Das Nachmittagsprogramm beginnt. Gemeinsam mit Lena, Stephan und Luisa besuche ich das neue Broot AHOI, ein Ausstellungsort mit einem wunderschönen Garten an der Fulda. Wer möchte, kann sich in dem erfrischenden Fluss etwas abkühlen – so wie Luisa :).
Der Wein ist super und die Atmosphäre einzigartig. Ach, es ist diese Atmosphäre, die ich während der Documenta so liebe! Die Menschen sind draußen, sie lächeln fremde Menschen an und sprechen sogar mit Unbekannten, sie scheinen glücklich zu sein und Englisch wird zu Alltagssprache auf der Straße. Ich habe das Gefühl, dass das ein Ort ist, an dem ich diesen Sommer viel rumhängen werde.
Zum ersten Mal nehme ich an den Eröffnungs-Parties teil – Parties, richtig. Ich weiß nicht wirklich, wie viele Parties stattfinden, aber ich bin bei zwei dabei.
Als erstes sind wir beim Sandershaus. Eine Freundin von Luisa hat da einen Auftritt. Es ist richtig voll – anscheinend ist es eines der richtigen Orte für heute abend. Wir borgen uns eine Bank vom benachbarten Zukunftsdort (dazu erzähle ich ein anderes Mal – es ist ein großartiges Projekt, das einen gesonderten Beitrag verdient), versorgen uns mit Getränken und schauen uns den ziemlich guten Auftritt von Luisa’s Freundin an. Wir treffen viele Bekannte und Unbekannte – denn so ist es auf der Documenta.
Wir radeln zurück zum Friedrichsplatz, wo wir von einem fake-Elvis auf der Bühne empfangen werden – er ist gut und die Atmosphäre ist wie auf einem Festival. Es fließt documenta-Bier und wir lernen noch mehr Menschen kennen. Wir werden von vielen gefragt, was die Zahl auf dem Fridericianum bedeuten würde – keine Ahnung, sorry! Wir könnten ins Begleitbuch schauen, aber wir sind auf einer Party – also wollen wir singen und tanzen.
Es wird Karaoke angekündigt. Ich denke, ich hör’ nicht richtig – Karaoke-Singen auf einem öffentlichen Platz? Ich bin sehr gespannt. David Zabel (kannte ich bisher nur von TEDxKassel) macht den Anfang. Klingt gar nicht so schlecht und die Crowd ist voll mitgenommen. Alle singen mit und die nächsten auf der Bühne machen alles nur noch besser. Ich bin begeistert. Open-Air-Karaoke is a thing!
Morgen ist wieder Fahrraddemo (nach Kaufungen zum Stiftswald), deshalb geht dieser wundervolle erste Tag der documenta fifteen hier zu Ende. Ich hab so viel mitgenommen, wie ich konnte, habe aber bemerkt, dass diese Documenta besonders ist. Es gibt viel zum Mitmachen, Erforschen und Entdecken, viel zu lesen, aber vor allem viel zu erleben. Ich freue mich auf die nächsten 99 Tage.